Universum voller Möglichkeiten

März. Rotthausen. Ernst-Käsemann-Platz. Am Rand einer leerstehenden Ladenzeile gemahnt ein ausgedienter Postbriefkasten an brachliegende Kommunikation. Das Gelb verblasst, die Farbe am Fuß des Sockels abgeblättert, das Metall angerostet. Jetzt noch eingeworfene Briefe würden ins Leere fallen, liegen bleiben, keinen Empfänger mehr erreichen. Kontaktmöglichkeit abgebrochen. Die Frage drängt sich auf, wie lange er wohl schon so dort steht.
Auch die zaghafte Spätwintersonne hat es noch schwer gegen die letzten Kälteausläufer, obwohl der herannahende Frühling sich bereits erahnen lässt. Dass er mit dem Winter auch den Lockdown oder gar Corona vertreiben wird, steht zwar vorerst nicht zu erwarten – ein Land weiter in der selbst auferlegten Starre. Doch die Unrast wächst. Auf Winterschlaf folgt Tatendrang.


Rückblende. Februar. Draußen knapp zweistellige Minustemperaturen, drinnen am Schreibtisch warme Gemütlichkeit. Eine frisch gekochte Tasse Tee dampft vergnüglich, und der aufgeklappte Laptop zeigt in Galerieansicht eine illustre Runde, deren Teilnehmende in getrennten Wohnungen einer Großstadt im Ruhrgebiet sitzen. Einer ist aus rund dreihundert Kilometern südwestlicher Entfernung zugeschaltet. Jitsi macht’s möglich.
In einer anderen Zeitrechnung begänne in dieser Woche der Straßenkarneval. Hier aber werden Ideen gewälzt, wie man trotz eingeschränkter Spielräume das Projekt voranbringen kann. Vorhaben werden vorgestellt, Alternativen diskutiert, Ergebnisse festgehalten, Aufgaben verteilt, Verabredungen getroffen. Die Entschlossenheit, aus der winterlichen Kontemplation in die Aktion zu kommen, ist nahezu greifbar, auch über die Distanz hinweg. Vorbei die Zeit der verordneten Ruhe.

Eigentlich verrückt, dass man das immer noch als Heimat empfindet, obwohl es ja eigentlich eine ganz andere Stadt geworden ist …

Auf dem Weg nach Rotthausen. Wir radeln an einer Litfasssäule vorbei. Darauf in knallig-grünen Lettern auf magentafarbenem Untergrund die Aufschrift „Entdecke alles Mögliche“. So zu finden und nicht zu übersehen seit Anfang März an zehn Standorten verteilt über markante Verkehrsachsen des ganzen Stadtteils. An Bushaltestellen, großen Kreuzungen, viel befahrenen Straßen und Knotenpunkten. Der Schriftzug eine Einladung an alle Rotthausener und Rotthausenerinnen. Über einen QR-Code gelangen sie direkt auf die Website der Neighboring Satellites, können sich dort informieren und über ein Formular Kontakt aufnehmen. Kurze, prägnante Antworten auf die meistgestellten Fragen zum Projekt finden. Bis Anfang Mai soll die Aktion gehen und auch in Zeiten physischer Kontaktbeschränkung Kommunikation und Interaktion ermöglichen.

Genauso wie die „Homebase 1“, der erste neue Heimatort und vorläufiges Zuhause des Projekts in Rotthausen, das sich den kompletten April über in einem ehemaligen Küchenstudio am Käsemann-Platz befindet. Dort sind wir mit Ilsebill Eckle verabredet, einer Gelsenkirchener Künstlerin, die nach dem Berufsleben in ihre Heimat zurückgekehrt ist und gemeinsam mit ihrem Mann eine Galerie im Nachbarviertel Ückendorf betreibt. Heimat? „Das ist was völlig anderes als es früher war. Das hat eigentlich gar nichts mehr miteinander zu tun. Eigentlich verrückt, dass man das immer noch als Heimat empfindet, obwohl es ja eigentlich eine ganz andere Stadt geworden ist …“
Im früheren Leben promovierte Chemikerin, widmet sie sich jetzt vornehmlich der Kunst. Schafft Reliefs, malt mit Öl, stellt Skulpturen aus Abfall her. Aus Dingen, die vermeintlich ihren Dienst getan haben. Und passt damit bestens ins Konzept der Satellites.

Als wir den mit grünem Kunstrasen ausgelegten Raum betreten, ist es, als spaziere man in eine bunte Märchenwelt, bevölkert von zwergengroßen Wesen aus Pappmaschee, meist menschenähnlich oder Tieren nachempfunden. Und richtig, da sind der Fischer und seine Frau, an die man unwillkürlich denkt beim Vornamen ihrer Schöpferin, drei Grazien, der obligatorische Bergmann, ein Vogel, eine Giraffe, „Mehrschweinchen“. „Mit ‚h‘“, wie Eckle betont. „Zusammen.Rottung“ hat ihr Mann die Gruppierung genannt und damit der Ausstellung ihren Titel gegeben. Ein bunt zusammengewürfeltes, dreidimensionales Stillleben, das die charakterliche Vielfalt eines Treibens nachstellt, wie es sich in einer uneingeschränkten Wirklichkeit auch draußen auf dem Marktplatz abspielen könnte – mit allem, was dazugehört: Klatsch, Tratsch, Geschäftigkeit, Lebendigkeit. Die Exotik des Alltäglichen. Spiegel des Realen. Heimat in der Kunst.
Ilsebill Eckle hat nicht ihre Werkstatt hierherverlegt, stellt bloß aus als Blickfang für Interessierte und Gelegenheit für andere, sich ein Bild von Ort, Raum und Möglichkeiten zu machen. Tagsüber spiegeln die Glasfenster des Ladenlokals das Äußere und geben beim Nähertreten den Blick auf das Innere frei, unterstützt von eigens aufgestellten Scheinwerfern. Die illuminieren auch abends den Raum, wodurch zusätzliche Aufmerksamkeit entsteht. So wechseln Perspektiven und Betrachtungsweisen sekündlich und mit dem Tagesverlauf – Nase an die Scheibe drücken und unverhohlene Neugierde inklusive, wie es eine Passantin demonstriert, die kurz hereinschaut. Es funktioniert also. Auch für die Künstlerin: „Ich habe schon ein paar Rückmeldungen per E-Mail bekommen, das kriege ich sonst nie bei Ausstellungen. Und alle sind begeistert.“

Ein weiterer Baustein im Konzept, unter den gegebenen Bedingungen Möglichkeitsräume zu schaffen: Im Ladenlokal wird ein Konzertfilm gedreht.

Atelier auf Zeit, Film und Podcast
Noch bis Ende März läuft für die Homebase 1 die Bewerbungsfrist für das „Atelier auf Zeit“. Nach einem Auswahlverfahren wird dann den April über eine kunstschaffende Person aus dem Stadtteil vorübergehend ihren Arbeitsraum hier einrichten und durch den Fensterblick die Öffentlichkeit an ihrem kreativen Schaffen teilhaben lassen. Sofern die Coronavorgaben es zulassen, soll über ein Anmeldesystem und ein Hygienekonzept vor Ort auch Raum für echte Begegnung und direkten Austausch entstehen – ein wichtiger Aspekt des Projekts, dessen Umsetzung derzeit erschwert ist.

Bevor es aber losgeht, wird im Ladenlokal ein Konzertfilm gedreht. Ein weiterer Baustein im Konzept, unter den gegebenen Bedingungen Möglichkeitsräume zu schaffen. Der in Rotthausen beheimatete Komponist Michael Em Walter ist zugegen, wie der Sprecher und Texter André Wülfing, begleitet von Violine und Klavier, Ausschnitte aus seiner Konzerterzählung „Mein Großvater Taugenichts“ vorträgt, dessen Musik von Walter stammt. Und das gut zu Ilsebill Eckles Fantasiefiguren passt, die gleichsam zu stummen, ehrfürchtigen Lauschern werden.
Zugänglich gemacht wird das Ganze dann auf der Projektwebsite, aber auch im Youtube-Kanal von Neighboring Satellites, wo sich neben diversen Teasern bereits ein kurzes Video findet, das eigens für eine digitale Fachtagung der AWO konzipiert und erstellt wurde, die in der zweiten Märzhälfte online ging. Es stellt das Projekt auf lockere und doch seriöse Weise vor – unter Einbezug von Anwohnerinnen und Anwohnern.

Michael Em Walter ist neben Projektleiter Christoph Lammert auch Gesprächspartner der ersten Ausgabe eines unter Mitwirkung des ortsansässigen Hörfunkjournalisten Simon Schomäcker produzierten Podcasts – „Stories aus der Umlaufbahn“ –, der ebenfalls die digitalen Möglichkeiten zur Vernetzung nutzen will. In losem Abstand sind sechs Folgen geplant, die verschiedene Themen behandeln, die allesamt um das Anliegen der Satellites kreisen und die Geschichte des Projekts erzählen. Dabei soll es um die Historie Rotthausens gehen, um Kunst und Kultur oder um Fragen wie Integration und Inklusion. Gegenstand der ersten Ausgabe ist das allem zugrundliegende Thema „Heimat“. Zu hören auf der Website, ebenfalls im Youtube-Kanal oder in einschlägigen Podcastportalen.
Doch Neighboring Satellites soll sich nicht nur digital abspielen, groß Gedachtes eben notfalls kleiner umgesetzt werden, entsprechend der gegebenen Bedingungen. Was auch funktionieren kann, wie sich am Beispiel des angemieteten Küchenstudios, der Fensterausstellung und des Ateliers auf Zeit zeigt. Aber auch noch anderes ist denkbar – der Fantasie und Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Außer vielleicht die, dass das Ergebnis Mittel und Aufwand rechtfertigen sollte.

Am Käsemann-Platz werden letzte Worte gewechselt. Für heute ist alles gesagt, ein fruchtbarer Austausch erfolgt. In diesem Moment fährt ein Transporter vor. Zwei Arbeiter steigen aus und entfernen in lässiger, unaufgeregter Routine und mit beeindruckender Effizienz den ausgedienten Briefkasten. Bringen einen neuen an. Der in leuchtendem Gelb einlädt, wieder aktiv zu werden, Kontakt zu suchen, zu schreiben, zu handeln. Genau wie die Plakate.
Es kommt Bewegung in die Winterstarre. Und er beginnt doch schon bald, der Frühling – in Rotthausen.

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