„Heimat. Aber normal.“ Ein Wahlplakat mit provokantem Ansinnen verabschiedet mich auf eine weitere Reise in den Pott. In einer Woche ist Bundestagswahl, die mehr oder weniger inhaltsleeren Parolen der Parteien sind allgegenwärtig auf Plakatwänden, Schildern, an Laternenmasten. Aber was ist „normal“? Was meint das? „Normalität ist das, was durch das ständige Ausgesetztsein damit zur Gewohnheit wird“, wird einer der Gäste an diesem Abend in der Gesprächsrunde im ehemaligen Küchenstudio am Rotthauser Ernst-Käsemann-Platz sagen. Mit zwei Thesen – Zitate aus Rückmeldungen zu den Aktivitäten von Neighboring Satellites der letzten Monate – sind die Anwesenden zuvor zur Diskussion aufgerufen. Die eine lautet: „In Rotthausen ist alles gut und soll so bleiben, wie es ist.“ Die andere: „Der Stadtteil, in dem wir uns tagtäglich bewegen und in dem unser unmittelbares Umfeld ist, muss entwickelt und gestaltet werden, um lebenswert zu sein.“
Einige sind der Einladung des Projektteams gefolgt. Der Zugang wurde („Corona sei bedankt“) über eine Anmeldebarriere begrenzt, um nicht zu viele Menschen aus verschiedenen Haushalten in einem Raum zusammenzubringen. Aber auch um eine diskussionsfähige Runde zu erhalten für einen handhabbaren und zielführenden Austausch.
Wein gibt es in Rot und Weiß, letzteren mit dem passenden Namen
„Heimlese“ auf dem Etikett
Doch noch sind Team und Musikerinnen unter sich. Werden Tische hergerichtet, Instrumente eingespielt. Wird der spartanische Raum zur guten Stube umfunktioniert und zugleich zum Konzertsaal samt Resonanzpodest. Zwei Tische, reich gedeckt für vierzehn Personen – darauf Suppenteller, -tassen, Weingläser, Fladenbrot und Antipasti, gelbe Servietten als Farbtupfer. Später werden alle Plätze besetzt sein. Drumherum die inzwischen vertrauten Wohnküchenschränke des Gelsenkirchener Barock, Sofa, Sessel, Lampe und Radio aus den Fünfzigern. An der Rückwand in pragmatischem Anachronismus zwei Campingtische als Buffet, auf dem einen weitere Gläser, Wasser, Muffins, Kuchen, auf dem anderen ein mobiles Kochfeld zum Wärmen der Suppe. Wein gibt es in Rot und Weiß, letzteren mit dem passenden Namen „Heimlese“ auf dem Etikett. Alles also bereit für den „Heimatabend mit Tafelmusik“.
Aus sicherer Entfernung schauen Passierende neugierig herein, fragen sich vermutlich, was hier vor sich geht. Ein Kind wird sich während des ersten Sets des Streichtrios näher an die Scheibe wagen. Über gekippte Fensterelemente gelangt der Klang nach draußen auf den Platz. Zwei Fußball spielende Jugendliche geben sich gleichgültig. Die ersten gelben Blätter auf dem Boden künden den bevorstehenden Herbst.
Wie auch die hervorgeholten Westen und Übergangsjacken der allmählich eintrudelnden Gäste. Die sich zuerst stehend im Ankommen üben, Smalltalk halten, sich mit Umgebung und Anwesenden vertraut machen. Ein weites Spektrum – von Anfang zwanzig bis an die siebzig sind alle Dekaden vertreten, manche stärker, andere vereinzelt. Doch insgesamt multiple Lebenserfahrung. Man nimmt Platz, greift erst verhalten, dann beherzter zu und wartet gespannt.
Mit etwas Verzögerung begrüßt Projektleiter Christoph Lammert die Erschienenen, heißt alle herzlich willkommen und erläutert den Ablauf des Abends. Dessen Ziel: Über das Projekt zu sprechen und dabei neue Ideen für dessen weiteren Verlauf zu entwickeln. Doch zunächst dürfen sich alle zurücklehnen, dem musikalischen Auftakt lauschen – das Kammermusikensemble 3Cordes aus dem benachbarten Essen spielt Felice Giardini. Eben noch in Straßenkleidung und Turnschuhen, jetzt in klassischer Musik angemessenerer Abendgarderobe.
Ihren französischen Gruppennamen leiten 3Cordes vom Spiel mit dem Begriffspaar „Saiten/Seiten“ her: Durch ihre unterschiedlichen Tonhöhen brächten Geige, Bratsche und Cello verschiedene musikalische Perspektiven zum Tragen. „Passend zum heutigen Anliegen, aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedliche Ideen für das Projekt zu entwickeln“, wie Cellistin Franziska Lüdicke lächelnd bemerkt. Kein Zufall daher wohl, dass das Ensemble für die Tafelmusik ausgewählt wurde. Verdienten Applaus gibt es jedenfalls – anders als etwa im Konzertsaal üblich – hier im profaneren Ambiente schon zwischen den Stücken.
Im Anschluss an den ersten musikalischen Teil wird gespeist – „lecker Kürbissuppe“, selbst gemacht. Der Austausch währenddessen ist bereits rege, bis Lammert die angeregten Gespräche unterbricht, seine beiden Thesen in den Raum stellt und auffordert, dazu Stellung zu beziehen.
Unter denen, die sich eingefunden haben, ist auch die erste Bürgermeisterin der Stadt und Stellvertreterin der Gelsenkirchener Oberbürgermeisterin, Martina Rudowitz. Die im Hauptberuf selbstständige Tagesmutter kommt eigentlich aus Schalke. Rotthausen wäre nicht ihre erste Wahl gewesen auf der Suche nach einem Zuhause für sich und ihre Familie, in dreißig Jahren hätten sie sich aber gut eingelebt. „Wir fanden damals eine schöne Wohnung hier, und über die Kinder, Freundschaften und das soziale Leben in Gruppen und Vereinen kommt man schon rein.“
Als Politikerin ist sie solche Runden gewohnt, der umfangreichste Redebeitrag kommt von ihr. Wobei es Rudowitz gelingt, von ihrer üblichen Rolle zu abstrahieren und insbesondere aus eigener Erfahrung zu sprechen. Dabei nehme sie vor allem wahr, dass gerade die älteren Menschen, von denen es in Rotthausen viele gebe, sich immer mehr zurückziehen. Typischerweise verwitwete Frauen, die immer schwerer zu erreichen seien. Anstrengungen, dem entgegenzuwirken, gingen oft von kirchlichen oder Vereinsinitiativen aus, hingen meist an Einzelpersonen und würden bei Weggang der Initiatoren wieder aufgegeben. Rudowitz’ Fazit: Man brauche einen langen Atem, um auf diesem Gebiet etwas zu erreichen. Dem stimmt Lammert zu, sieht aber gerade im geschilderten Zusammenhang einen Aspekt, bei dem das Projekt der Neighboring Satellites einhaken könne. Das durchaus einen mehrgenerationellen Anspruch erhebe, weshalb für seinen Leiter die Frage im Raum steht, ob und wo gegebenenfalls bereits Orte bestünden, die „Begegnungsformate unterschiedlichster Art zulassen würden, an denen Menschen aus dem Stadtteil sich in irgendeiner Form beheimatet fühlen und sich begegnen können“. Sowohl im Blick auf die Älteren als auch auf die Jungen und die dazwischen.
Während Martina Rudowitz hinsichtlich der Jugend aufgrund der kulturellen Vielfalt und der daraus resultierenden, teils unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie die Arbeit in dem Bereich auszusehen hat, einen erhöhten Bedarf an Sozialarbeitern und Streetworkern sieht, konstatiert ein Tischnachbar, dass im Rahmen des heutigen Abends nicht über die Jugendlichen geredet werden könne, da von ihnen ja niemand da sei und sie somit nicht für sich selbst sprechen könnten. Peter Schneider stellt sich als „Rotthauser Bürger“ vor, gebürtig aus Gelsenkirchen Horst und seit sechzehn Jahren im Viertel zu Hause. Wo Räume fehlen, bringt er das Konzept von Stadtteilspaziergängen ins Gespräch, die Möglichkeit der Begegnung unter freiem Himmel. Und rennt damit offene Türen ein bei Meinhard Siegel, ebenfalls kulturinteressierter Rentner, aktiver Amateurjazzmusiker und seit sieben Jahren Anwohner. Zuletzt vor Ort zu hören im Trio mit Musik mit schwedischem Einschlag beim Querbeet-Festival im Metropolengarten um die Ecke, zu welchem Anlass Simon Schomäcker ihn im August für den Podcast der Satellites vor dem Mikrofon hatte. „Da wär ich dabei“, sagt er zum Thema Spaziergänge und zeigt auch jetzt schon Bereitschaft zur Aktion, wenn er gemeinsam mit Nachbarn öffentliche Radstrecken von überwuchernden Brombeerranken befreit.
Die Situation für Kinder und Jugendliche sei heute in vielerlei Hinsicht anders als früher. Weshalb man sie nicht einfach sich selbst überlassen könne.
Jutta Altmeyer, ehemalige Leiterin der Kita Schweizer Dorf im Stadtteil Altstadt und aktive Künstlerin, bringt das Konzept der „Essbaren Stadt“ ins Spiel, wie es etwa im rheinland-pfälzischen Andernach praktiziert werde. Auf den Grünflächen der Stadt würde dort Gemüse und Obst angepflanzt, Anwohnerinnen und Anwohner könnten sich an der Pflege beteiligen, und jeder, der mag, könne davon ernten. Die Österreicherin ist über Umwege nach Gelsenkirchen gekommen und hat trotz anhaltender Verbundenheit mit ihrer Salzburger Heimat die Besonderheiten des Ruhrgebiets schätzen gelernt. Sie hat hier Wurzeln geschlagen, ist in verschiedenen Vierteln aktiv, zum Beispiel bei der die Gestaltung von Märchenbänken mit Kindern.
Etwas zurückhaltender agieren die jüngeren Anwesenden, nur Elli Ledwig, Mitglied im Projektteam, meldet sich kurz zu Wort. Die Situation für Kinder und Jugendliche sei heute in vielerlei Hinsicht anders als früher. Weshalb man sie nicht einfach sich selbst überlassen könne. Und bringt die Falken ins Spiel, die Sozialistische Jugend Deutschlands, die in anderen Stadtvierteln bereits wirksam aktiv seien. Martina Rudowitz bestätigt, dass es durchaus Anfragen des Verbands auch für Rotthausen gegeben habe, diese aber bisher an fehlenden Räumlichkeiten und finanziellen Mitteln gescheitert seien.
Nach so viel konzentriertem Austausch sind alle dankbar für eine Pause mit frischer Luft und ein weiteres Intermezzo des Streichtrios. Drei Barock-Fantasien spiegeln die erfolgte Diskussion auf Augenhöhe, lassen Konkordanzen und Dissonanzen sich abwechseln und alle drei Stimmen – Geige, Bratsche und Cello – gleichwertig zu Gehör kommen.
Die Gespräche kehren zurück in die kleineren Tischrunden und finden ihren Niederschlag diesmal in schriftlicher Form. Ein vorbereitetes Blatt, das der Projektleiter zuvor an alle austeilen ließ, enthält individuell zu beantwortende Fragen, die auf die konkrete Ausgestaltung der kommenden Wochen und Monate abzielen. „Was müsste mir ein neuer ‚Heimat-Ort‘ bieten?“ – „Welches Angebot wünsche ich mir konkret?“ – „Wann/wie/woran würde ich mich beteiligen?“ …
Natürlich gibt es Gutes in Rotthausen, aber eben auch Dinge, die möglicherweise nicht so bleiben sollen, wie sie sind
Die Konversation bleibt rege, und am Ende kann Christoph Lammert viele ausgefüllte Bögen einsammeln, ein zufriedenes Fazit ziehen. „Natürlich gibt es Gutes in Rotthausen, aber eben auch Dinge, die möglicherweise nicht so bleiben sollen, wie sie sind. Ich habe herausgehört, dass Entwicklungspotenzial besteht und es auch wünschenswert wäre, wenn sich noch einmal etwas bewegt. Von daher finde ich es besonders schön, dass wir gemeinsam hilfreiche Ansätze für die fortlaufende Projektarbeit erarbeiten konnten. Dafür ein großes Dankeschön an alle Mitwirkenden.“
Ein letztes Mal begeben sich die drei Damen von 3Cordes nach vorne, um den offiziellen Teil des „Heimatabends“ mit einem finalen Stück zu beschließen. Nicht ohne zuvor Christoph Lammert in seinem Schlusswort über den Distanzabbau sinnieren zu hören, den intime Veranstaltungen wie diese zwischen Musizierenden und Publikum erlaubten. „Ich finde es sehr berührend, sowohl die Musikerinnen als auch die Instrumente atmen zu hören“, sagt er noch, ehe das Andante Allegretto des Satzes in B-Dur von Luigi Boccherini den Abend in wohltönender Harmonie ausklingen lässt.