Noch eine knappe Stunde, bis es losgeht. Ein gigantischer, von der Decke hängender Retroleuchter dominiert das Bild. Darunter Stühle im coronagebührenden Abstand. Auf der Bühne ist alles vorbereitet. Rechterhand zwei Sessel samt Nierentisch und Stehleuchte im ins Ambiente passenden Stil der Fünfziger – für die Gespräche des Abends. Links davon testen die im Programm vorgesehenen Künstler den Sound.
Gelöste, aber auch gespannte Atmosphäre im Kolping-Saal Rotthausen. Für zehn Jahre hat die Stadt Gelsenkirchen das Gebäude des großen katholischen Sozialverbands angemietet. Im Erdgeschoss soll ein Quartierbüro entstehen, die umfangreichen Renovierungsarbeiten laufen. Heute findet hier im ersten Stock unter dem Titel „Aufbruch ins Nebenan“ die Auftaktveranstaltung des vom Land NRW im Rahmen seines Programms #heimatruhr geförderten Projekts Neighboring Satellites statt.
Eine Woche zuvor. Christoph Lammert lehnt an der Bühne des altgedienten Saales, dem man seine Errichtung in den Wirtschaftswunderjahren ansieht, und spinnt seine Zukunftsvision. Neues soll im Alten entstehen, Vorhandenes weitergenutzt, neuer Bestimmung zugeführt werden, so, dass es Menschen zusammenbringt. Er zitiert aus Paulus: „Prüfe alles und behalte das Gute.“ Wenn man dem Leiter des Projekts zuhört, möchte man seinem Traum glauben, auch wenn er im ersten Moment zu schön klingt, um wahr zu sein. Doch er lässt sich nicht entmutigen. In Ückendorf, dem Nachbarquartier, hat es auch funktioniert. Funktioniert es noch und zieht Kreise. Wie ein Satellit um seinen Bezugspunkt …
Das Orgateam hat alles bestens vorbereitet. Hygieneauflagen sind berücksichtigt und eingehalten. Projektassistentin Elli bringt eben noch Hinweisschilder zur Maskenpflicht und zum Gebrauch des bereitgestellten Desinfektionsmittels an. Alex, die zweite Projektassistentin, verteilt Flyer, Postkarten und Wasserflaschen auf den Plätzen.
Lammert schließt die Eingangspforte, setzt sich an den Tisch im Vorraum, auf dem noch unsortiert und unaufgeräumt Postkarten, Material, Mappen liegen. Er muss sich neu auf seine Moderation vorbereiten, ist ungewohnt nervös. Wegen eines möglichen Coronakontakts musste Kulturreferatsleiterin Andrea Lamest kurzfristig für die Talkrunde absagen, eine Kollegin wird einspringen. Eine Herausforderung. Doch am Ende wird ihm sein Improvisationstalent helfen.
Der Autor ist aber heute erst mal auf dem Weg ins Ruhrgebiet. Ein Hunsrücker im Pott. Aus der beschaulichen Naheregion hinein in den Hotspot …
Im Zug. Weinberge und Wälder sind in herbstliche Farben getaucht – irgendwie spät dieses Jahr, trotz der langen Trockenheit. Die Landschaft gleitet vorbei. Rechts der Rhein, hie und da ein Containerschiff, eine Fähre. Beinahe idyllisch. Was fehlt, sind die Ausflugsdampfer. Corona hat alles im Griff, und die Regierung zieht gerade die Zügel wieder an. Vielleicht auch daher die geringe Auslastung des Zugs.
Ein Regenbogen. Der Herbst ist, wie wir ihn bisher kannten – feucht, kühler als die letzten Jahre, doch immer noch vergleichsweise mild. Soll weiterhin vorkommen, eine „normale“ Jahreszeit. Was nichts daran ändert, dass Trockenheit und Temperaturen spürbar zunehmen. Der Klimawandel scheint nicht aufzuhalten. Deutschland auf dem Weg in die Savanne …
Der Autor aber heute erst mal auf dem Weg ins Ruhrgebiet. Ein Hunsrücker im Pott. Aus der beschaulichen Naheregion hinein in den Hotspot. Gelsenkirchen. Inzidenz bei über hundert. Corona-Risikogebiet. Wie das klingt – ein Kriegsberichterstatter auf dem Weg in eine Krisenregion. Krisenregion ist das Ruhrgebiet seit dem Niedergang des Bergbaus schon lange. Hotspot der Arbeitslosigkeit. Gerade Gelsenkirchen, Schlusslicht bundesweiter Arbeitsmarktstatistiken …
Soundcheck. Mit vier versetzt im Saal aufgestellten Boxen sorgen die Klangprofis vom Team Art-B für den richtigen Ton bei am Ende coronabedingt nur zwanzigprozentiger Auslastung der Räumlichkeit. Nicht einfach, die Akustik bei so wenigen Menschen auf so großer Fläche optimal auszurichten. Aber der Sound ist gut, die Musik des Abends auch und wird von denen, die gekommen sind, begeistert aufgenommen.
Rüdiger Jagsteit und sein Trio werden den Anfang machen. Schwarze Jeans, schwarzes Shirt, markanter Bart und die langen, braunen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, kommt das Gelsenkirchener Urgestein dem Klischee der „Ruhrpottschnauze“ vielleicht am nächsten. In der Art, wie er sich präsentiert, herbe Erscheinung, meist einen trockenen Scherz auf den Lippen, als Künstler gewohnt, nicht immer die freundlichste Behandlung zu erfahren und mit einer entsprechend dicken Haut versehen. Direktheit kann aus Takt- oder Rücksichtslosigkeit erwachsen. Reaktion darauf sein. Sich dahinter aber genauso gut eine verwundbare Seele verbergen. Die man auch bei dem Musiker, Baujahr Achtundsechzig, zu erahnen meint. Und die womöglich in seinen selbst geschriebenen Liedern Ausdruck sucht. „Meine Songs sind so lang, weil die Geschichten aus mir herauswollen. Meine Bandkollegen sagen immer, ich hätte so viel zu erzählen“, entschuldigt er sich später fast beim Publikum in der Ansage zu seinem dritten Song, der zugleich sein letzter sein wird, mehr Zeit bleibt nicht. Insgesamt sind vier „künstlerische Interventionen“ vorgesehen, wie Lammert sie in der Anmoderation nennen wird.
„ … die Begegnung mit dem Nebenan ist oft auch die Begegnung mit dem Unbekannten.“
Fünfzehn Minuten vor Einlass. Leichte Nervosität macht sich breit – es fehlen Kontaktformulare. Die werden zur Nachverfolgung benötigt, Corona sei Dank. Lammert klemmt sich ans Telefon, und erste Synergien im Nebenan werden erkennbar. Klar kann jemand vorbeikommen und Kopien im Quartierzentrum der AWO machen. Die hat sich ohnehin für den Abend mit zehn Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen angekündigt. Ihr Fachbereichsleiter für Integration, Zuwanderung, Geflüchtete und Erwachsenenbildung, Admir Bulic, wird erster Gesprächspartner auf der Bühne sein. Elli macht sich auf den Weg zur Anfang 2017 im Stadtteil eröffneten Anlaufstelle des freien Wohlfahrtverbands. Nur eben dreihundert Meter die Karl-Meyer-Straße rauf auf der linken Seite.
Zehn Minuten bis zum offiziellen Beginn. Der Saal ist erst spärlich gefüllt, noch sind mehr Beteiligte als Interessierte im Raum. Zusätzlich zum bereits vorhandenen Abstand der Stühle lassen die bisher Anwesenden teils mehrere leere Plätze zwischen sich und dem Nächsten. Der Eindruck wächst, dass Corona abhält. Das Virus hat die Optionen der Veranstaltung von Woche zu Woche schrumpfen lassen. Nur dreißig per Anmeldung zugelassene Besucher blieben übrig. Immerhin werden am Ende so gut wie alle Sitze besetzt sein. Von Männlich bis Weiblich, von hier Geboren bis Zugezogen, von Jung bis Alt wird alles vertreten sein. Lammerts eine Woche zuvor an gleicher Stelle vor leerem Saal zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, mit dem Projekt unterschiedliche Generationen, Herkünfte und Geschlechter zusammenzubringen, erfüllt sich an diesem Abend bereits. Ein Anfang scheint gemacht.
Und der Blick durch die raumhohen Fenster nach draußen beruhigt, dort tummeln sich weitere Einlasswillige. Ein kurzes Schwätzchen trotz Regens, Raucher inhalieren die letzten Züge vor zweistündiger Abstinenz. Drinnen wird schon einmal das Licht gedimmt.
18 Uhr 11. Lammert zögert noch, obwohl bis auf zwei alle Plätze besetzt sind und spürbar gespannte Erwartung den Raum erfüllt. Dann legt er die Mund-Nasen-Bedeckung ab, tritt vor die Bühne, Mikrofon in der Hand, begrüßt die Anwesenden. Muss zugeben, dass es irreal wirkt, als einziger Unmaskierter vor so vielen vermummten Menschen zu stehen. „Es freut mich, dass Sie alle bereit waren, sich heute Abend aus dem Digitalen ins Analoge zu begeben“, fährt er fort. „Und ich freue mich über viele Unbekannte, denn die Begegnung mit dem Nebenan ist oft auch die Begegnung mit dem Unbekannten.“
Ganz im Sinne von #heimatruhr geht es um die Wahrnehmung des Ruhrgebiets als Möglichkeitsraum.
Die Begegnung mit dem Nebenan erfordert auch kein Herausputzen, keine Verstellung. Entsprechend trägt der Projektleiter dieselben Kleider, in denen er sonst auch am Schreibtisch sitzt – mittelblauer Pulli über hellblauem Hemd, dunkelblaue Hose, braune Schuhe. Und vermittelt: Wichtig ist nicht das Äußere, sondern der Gehalt. Und alle anderen, die an diesem Abend die Bühne betreten, tun es ihm gleich, Musiker und Netzwerkpartner. Geben sich so, wie man ihnen auf der Straße begegnen würde. Menschen von nebenan. Als sei es abgesprochen, während es in Wirklichkeit vielleicht bereits der Ausdruck einer gemeinsamen Haltung ist, die keiner Worte bedarf.
Lammert erklärt die Entscheidung für den englischen Titel des Projekts. Weil „benachbarte Satelliten“ nun mal nicht so elegant klinge und „Neighboring Satellites“ grafisch besser zur Geltung komme, sagt er. Vielleicht verbindet das Englische aber auch im Sinne eines übergreifenden Mediums, mit dem doch irgendwie die meisten etwas anfangen können, wo gerade auch im Ruhrgebiet Sprachbarrieren eine Rolle spielen.
Wichtig ist aber nicht so sehr der Titel. Ganz im Sinne von #heimatruhr geht es um die Wahrnehmung des Ruhrgebiets als Möglichkeitsraum. Der weiter erschlossen werden will, wo der Verweis auf den Bergbau nach mehr als hundert Jahren Daseinsberechtigung schon lange immer weniger als übergreifender Zusammenhang herhalten kann. Deutschlands größtes Ballungsgebiet mit über fünf Millionen Einwohnern muss sich neu erfinden – oder, wie Lammert es ausdrückt, das bereits vorhandene Gute nähren und weitertragen. Die Neighboring Satellites sind dabei nur ein Entwurf von vielen in dem Versuch, alte und neue Orte (wieder) zu beleben. Die große Hoffnung aller Beteiligten: Innerhalb der zwei Jahre, die das Projekt in Rotthausen läuft, einen neuen „Heimatort“ zu schaffen, der auch darüber hinaus Bestand haben und wirken wird …